Für die eigene jüdische Herkunft und die mit ihr verbundenen Personen wird eine seltsame Leugnung, ja Tabuisierung erkennbar: Die Verfolgung und Bedrohung der Juden wird nicht offen thematisiert, sondern vielmehr marginalisiert. Über das Ideologische gelenkt, erscheint das jüdische Schicksal reduziert auf Zwischenmenschliches.
Natürlich nimmt – wie die Verfasserin [Haller-Nevermann] zu Recht feststellt – das Thema der politischen Verfolgung einen zentralen Rang ein. Dies hat spätestens seit den frühen Romanen wie Der Kopflohn, Der Weg durch den Februar und Die Rettung mit Seghers operativer Zielsetzung zu tun, „die Welt schreibend zu verändern“ oder, wie sie später sagt, „bei der Zerstörung des Faschismus und bei der Befreiung der Länder und der Gehirne mitzuschreiben“.
Doch glauben sie ja nicht, mein Sohn, daß damit ihr Transit schon sicher sei, und selbst, wenn es sicher wäre! Inzwischen ist so viel Zeit vergangen, daß wieder das erste, das Hauptziel entschwunden ist. Dein Visum ist abgelaufen, und wie auch das Transit notwendig war, es ist wieder gar nichts ohne das Visum, und so immer weiter, immer weiter, immer weiter. (Transit, S. 45/46)
Ein kleiner alter Mann setzte sich zu mir. Er trug einen Rock von der Sorte, die längst bei jedem anderen in Fetzen gegangen wäre, hier aber zufällig an einen Besitzer geraten war, der ihn durch Würde und Sorgfalt nicht untergehen ließ. Und wie der Rock, so der Mann. Er hätte längst im Grab liegen dürfen, doch sein Gesicht war fest und ernst. [...]
Er sei Kapellmeister in Prag gewesen, jetzt habe man ihm eine Stelle verschafft bei einer berühmten Kapelle in Carácas. (Transit, S. 43)
Ich fragte ihn, ob er Söhne habe; er erwiderte, ja und nein, sein ältester Sohn sei in Polen verschollen, sein zweiter in England, sein dritter in Prag.
Die Hunde erschreckten hier oben ein halbes Dutzend kleiner jüdischer Kinder. Die drängten sich um ihre Eltern und ihre Großmutter, eine gelbe, starre Frau, die so alt war, als sei sie nicht durch Hitler, sondern durch das Edikt der Kaiserin Maria Theresia aus Wien vertrieben worden. (Transit, S. 124)
Wie ich bald gewahr wurde, gehörten all diese wartenden Menschen, etliche Frauen, Männer, Kinder, deren ich einige von dem letzten Wartetag wiedererkannte, sowie auch das alte, in sich versunkene Weib der gleichen Familie an, die aber heute hier vollzählig antrat. (Transit, S. 191)
Alle zogen ab, indem sie der Alten die Treppe hinunter halfen, sich gegenseitig zur Vorsicht ermahnend, traurig, verstört, doch ganz ohne Reue. (Transit, S. 193)
Trotzdem vollzog sich der Abbruch der Suche ganz anders, als ich erwartet hatte. Es war nichts Jähes darin, kein wildes Wennschon-Dennschon. Es war ein stiller Entschluß, dem Zufall zu gehorchen. Doch schien der Zufall sich selbst zu wundern, wie sie dasaß mit gesenktem Kopf und gesenkten Augen, in einer Ergebenheit, die ihm, dem Zufall, noch nie widerfahren war und die er nur dem Umstand verdankte, dass er etwas anderem verteufelt ähnlich sah. (Transit, S. 205)
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir in die Wüste hineinzogen. Mir dünkte es vierzig Jahre lang wie in der Bibel. [...]
Jetzt aber – in der Wüste -, ich schwöre Ihnen, ich merkte gar nicht, daß ich auf einmal anfing, tapfer zu sein. Ich fing nur an, meinen Mittransitären ein wenig Mut zuzusprechen. Besonders den jüngeren. Ich redete ihnen ein, es gebe da irgendein Gesetz für die Menschen, das gar nichts mit der verdammten Legion zu tun habe, es gebe da irgendein Gesetz, man müsse sich bis zum Tod anständig aufführen. Und diese Einbildung vermischte sich immer mit irgendeinem Versprechen auf Wasser, auf eine entfernte Ankunft. (Transit, S. 206/207)
Wenn man nicht unterstellen will, dass dies eine bewusste Entscheidung für eine Heimreise im Sinne einer Reise in den Tod bedeutet – und hierfür spricht eigentlich nichts im Text - , muß man davon ausgehen, dass sich der Mittransitär (und in ihm wohl auch die Autorin) nicht wirklich bewusst ist, was einen Juden „erwartet“, der 1941 nach Deutschland zurückkehrt.
The importance of the real historical dimension to „Ausflug der toten Mädchen“, and of its Jewish dimension in particular, becomes yet clearer if one bears in mind that it was in 1943, shortly before its composition, that Anna Seghers learnt of the death of her mother, Hedwig Reiling, who had been deported to the camp of Piaski, near Majdanek, on 20 March 1942. The story must therefore be read in part as a response to the Jewish genocide.
Wenn Marianne so vorsichtig die Schaukel für Leni festhielt und ihr mit soviel Behutsamkeit die Halme aus dem Haar zupfte und sogar ihren Arm um Lenis Hals schlang, dann konnte sie sich unmöglich mit kalten Worten später schroff weigern, Leni einen Freundschaftsdienst zu tun. Sie konnte unmöglich die Antwort über die Lippen bringen, sie kümmere sich nicht um ein Mädchen, das irgendwann, irgendwo einmal zufällig in ihre Klasse gegangen sei.
At the Großherzogliche Studienanstalt, the school in Mainz that Anna Seghers attended from 1917 to 1920, there was a Jewish teacher, Johanna Sichel. Like her fictional counterpart, and the narrator’s mother, she was deported by the Nazis along with one of her ex-students.
Nur kam es mir unerträglich schwer vor, die Treppe hinaufzusteigen. Ich sah bis zum zweiten Stock hinauf, in dem unsere Wohnung lag. Meine Mutter stand schon auf der kleinen, mit Geranienkästen verzierten Veranda über der Straße. Sie wartete schon auf mich. [...]
Ich zwang mich zu meiner Mutter hinauf, die Treppe, vor Dunst unübersehbar, erschien mir unerreichbar hoch, unbezwingbar steil, als steige sie eine Bergwand hinauf. [...] Doch mir versagten die Beine. Ich hatte nur als ganz kleines Kind eine ähnliche Bangnis gespürt, ein Verhängnis könnte mich am Wiedersehen hindern. [...]
Die Stufen waren verschwommen von Dunst, das Treppenhaus weitete sich überall in einer unbezwingbaren Tiefe wie ein Abgrund. [...] Ich dachte noch schwach: Wie schade, ich hätte mich gar zu gern von der Mutter umarmen lassen.
Seghers ist bis an die äußerste Grenze des Vorstellbaren gegangen – und hier reißt die Vision ab. In einem Alptraum realisiert sie die Gültigkeit des Todes. Der literarische Abschied scheint nunmehr vollzogen.
Alle übrigen Mädchen an unserem Tisch freuten sich mit Nora über die Nähe der jungen Lehrerin, ohne zu ahnen, daß sie später das Fräulein Sichel bespucken und Judensau verhöhnen würden.
Plötzlich fiel mir der Auftrag meiner Lehrerin wieder ein, den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben. Ich wollte gleich morgen oder noch heute abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen.
Nicht nur das Haar der Lehrerin, in dem ich auch jetzt wieder verwundert ein Gemisch grauer Strähnen feststellte, auch das Haar der Schülerin Sophie, jetzt noch so schwarz wie Ebenholz, wie das Haar Schneewittchens, sollte über und über weiß sein, als sie zusammen im vollgepferchten plombierten Wagon von den Nazis nach Polen deportiert wurden. [...]
Wie jung sie doch aussah, die Mutter, viel jünger als ich. Wie dunkel ihr glattes Haar war, mit meinem verglichen. Meins wurde ja schon bald grau, während durch ihres noch keine sichtbaren grauen Strähnen liefen.
The image of shining hair of youth and vigour turned white by excess of suffering has an importance that transcend Seghers’s story. Through the celebrated closing lines of Paul Celan’s “Todesfuge”, “dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith”, the contrast between golden locks and whitened hair has become one of the poetic symbols of the Jewish catastrophe.
Opfer des totalitären Regimes und dieses Krieges sind – folgt man dem Text – Juden, Antifaschisten und die durch Bombenangriffe ermordete Bevölkerung gleichermaßen. Eine Gewichtung läßt der Text kaum erkennen.
Der Junge saß während all dem Streit vergnügt kauend am Tisch bei den drei Alten. Sein Vater versuchte manchmal heimlich, sein Haar oder wenigstens seine Hand zu berühren. Der Junge horchte weniger auf die Gespräche, die ihm gleichgültig waren, als auf den Lärm der Straße, bis er den Pfiff des Schulfreundes erkannte.
Er war jetzt mit Leib und Seele, nicht bloß mit der luftigen, ungewissen Seele, dem Volk verpflichtet, dem er sich längst verbunden fühlte, dessen Sprache und dessen Gedanken längst in ihn gedrungen waren, vom Bastillesturz bis zum Dreyfusprozeß.
Die Eltern freuten sich, daß ihr Sohn in dem Land aufwachsen konnte, in dem sie erst hatten Wurzeln schlagen müssen, daß er nicht erst in der Schule Französisch lernte, sondern schon vorher so gut wie sein Lehrer sprach. Wenn sie den Jungen vom Fenster riefen, dann freuten sie sich, wenn er mit den Gassenbuben spielte, so daß er gar nicht von dem Knäuel sich balgender Buben zu trennen war, anstatt, wie früher sein Vater, verlegen, in seltsamen Kleidungsstücken aus der Haustür dem Spiel zuzusehen.
Der Vater, am Sederabend auf seinem Ehrenplatz in den roten Kissen, sah zaghaft und kindlich aus, trotz seines Bartes. Er nickte dem Kleinen zu, damit er aufspringe und nach dem Brauch die Tür öffne, denn der Messias konnte in dieser Nacht durch alle Türen in allen Häusern der Welt unversehens eintreten, um sein Volk aus der Verbannung heimzuführen. Ein schwacher Hauch dieses Glaubens, der sich nicht lehren und nicht übertragen läßt, wehte den Jungen bei jedem Türöffnen an, die verstohlene Frage: „Wie, wenn er jetzt bei uns eintritt?“ Obwohl er, der schlauer war als sein Vater, genau wußte, daß sie ganz sinnlos war.
Ein Jude in Wien, der jetzt schon geraume Zeit tot war, war auf den Gedanken gekommen, das Gelobte Land, das Gott versprochen hatte, sofort für das jüdische Volk zu fordern. Es sollte aus allen Ländern der Welt, in denen es verfolgt wurde, in seine Heimat nach Palästina zurückkehren.
Der Bruder Salomon Levi trat heiß für die neue Lehre ein. [...] Der Vater Levi mischte sich nicht ein; er hörte lächelnd zu. Von klein auf war es sein heimlicher Wunsch gewesen, vor seinem Tod mit eigenen Augen das Gelobte Land zu sehen. Doch dieser Wunsch hatte keine politischen Grenzen, er war nur von Gott erfüllbar.
Er fühlte sich eine Zeitlang ruhiger, wenn ihn die Post über das Wohl der Familie beschwichtigte, die er daheim gelassen hatte. Vor seiner Abfahrt hatte er das Land, in dem er sich jetzt befand, für „Daheim“ gehalten. [...]
Statt Friede im Land seiner Väter zu finden, war er in Gedanken im Land seiner Kinder, in dem es blutig und wild herging. Er malte sich alle Leiden aus, die den Sohn betroffen haben konnten. Es deuchte ihn jetzt, er hätte ihn im Stich gelassen.
Auf literarischem Felde, mit dem Motiv der Briefe, gelingt es der Autorin, die Gesetzte von Leben und Tod außer Kraft zu setzen, geistige und räumliche Distanz zu überbrücken – ihr gelingt etwas, das im Leben selbst nicht mehr gelungen war, nämlich eine tiefgehende Verbindung herzustellen. Es gelingt ihr ein Innehalten, „als sei durch diesen Briefwechsel der Tod selbst überlistet“ [...].
„Mein lieber Vater, ich habe in der Nacht geträumt, ich ginge durch die Höfe und Gänge von St. Paul, ich war ein kleiner Junge, ich ging gar nicht an Deiner Hand, sondern an Großvaters Hand. Wir gingen die Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock der Synagoge. Die Großmutter zeigte mir von oben herunter die Jahrzeitkerze, die für die Mutter angesteckt wurde. Ich sah auf das Flämmchen begierig hinunter.“
Das Wachhalten der Erinnerung an die Opfer der Pogrome durchzieht die Erzählung. Bemerkenswert ist es, daß Seghers die Kerzen in der Synagoge entzünden Läßt, sie brennen für die Toten. Sie gedenkt der von den Nazis ermordeten Juden in der ihnen angemessenen Form.